Die „vierte Gizeh-Pyramide“ in Abu Roasch

Die Djedefre-Pyramide (auch als Radjedef -Pyramide bekannt) ist der Rest eines Bauwerks, die in einem öden Wüstengeröllgebiet in der Nähe des heutigen Ortes Abu Roasch in Ägypten liegt, rund acht Kilometer von Gizeh entfernt, und nach der nicht mehr existierenden Pyramide von Athribis und der benachbarten Lepsius I.-Pyramide die drittnördlichste bekannte Pyramide Ägyptens ist. Dabei verwende ich hier den Begriff „Pyramide“ nur, weil sie die Ägyptologen so nennen.

Der Bau wurde in der 4. Dynastie um -2580 bis -2570 für Pharao Djedefre (Radjedef), Sohn und Nachfolger des Königs Cheops, begonnen. Djedefre hatte eventuell seinen älteren Halbbruder Kauab ermordet, um selbst Pharao zu werden. Djedefre selbst ist dann möglicherweise etwa acht Jahre später von seinem jüngeren Halbbruder Chephren ermordet worden, der angeblich dann die nach ihm benannte Chephren-Pyramide neben der Cheopspyramide in Gizeh errichten ließ. Eine recht mordlüsterne Zeit, wenn es denn so stimmt.

Vermutlich wurde die Djedefre-Pyramide, die auf einem Berggrat rund 150 Meter am Westufer über dem Niltal liegt, allerdings nicht vollendet. Heute sind von der stark zerstörten Ruine nur noch maximal die etwa fünfzehn untersten Steinlagen in Ansätzen erhalten, die an einen stehen gelassenen Felskern angebaut sind. Der Rest des Bauwerks fehlt, angeblich wegen exzessivem Steinraub.

Erstmals wurde das Bauwerk 1839 von Richard Howard Vyse und John Perring untersucht.
Ob man dabei von einer (ehemaligen) Pyramide sprechen kann, darüber lässt sich trefflich streiten, denn der dortige Steinhaufen sieht nun wirklich nicht so aus, als ob man daraus eine Pyramide bauen könnte oder ob es die unteren Lagen einer Pyramide gewesen sein könnten.
Aufgrund der sichtbaren ausgesprochen schludrigen Bauweise stellt sich mir die Frage, wo denn die hervorragenden Baumeister geblieben sind, die für Djedefres Vater Cheops die perfekte Große Pyramide in Gizeh erbauten? Denn das, was heute als Reste der Djedefre-Pyramide zu sehen ist, zeigt nur eine sehr grobe Zusammenstellung und Bearbeitung unterschiedlich großer Steinblöcke. Es fehlt völlig die millimetergenaue Eleganz der Gizeh-Pyramiden. Und nach Djedefre - so die offizielle Sichtweise - ließ dessen Bruder Chephren seine Pyramide wieder in Gizeh in ähnlich perfekter Art wie die Cheopspyramide bauen. Sind hier die Baumeister wieder aus der Versenkung hervor gekommen? Oder stimmt ganz einfach nicht die Reihenfolge der Pharaonen einschließlich ihrer Lebensdaten, oder haben die Gizeh-Pyramiden letztendlich überhaupt nichts mit einem Cheops, Chephren und Mykerinos zu tun, stammen aus einer ganz anderen Epoche und werden heute nur zeitlich falsch zugeordnet?

Der amerikanische Ägyptologe Mark Lehner gibt die Maße der Djedefre-„Pyramide“ folgendermaßen an: Basismaß 106 Meter (davon sollen heute noch 97 Meter erhalten sein), 67 Meter Höhe (das ist wohl ins Blaue geschätzt), und ein Volumen von 131.043 Kubikmeter, was ebenfalls eine Fantasiezahl sein dürfte. Das Bauwerk soll früher „Zum Firmament gehört Djedefre“ (alternativ: „Sternenzelt des Radjedef“) gehießen haben. Diese Bezeichnung sagt allerdings nicht aus, ob es sich bei dem Bauwerk um eine Pyramide handelt.

Den Steinbruch für das Material des Pyramidenkerns fand man etwa zwei Kilometer östlich in der Nähe der Lepsius I.-Pyramide und eines Mastaba-Friedhofs. Die Dicke der Schichten des dort vorkommenden Gesteins soll weitgehend mit den Steingrößen der Pyramide übereinstimmen.
Man ist sich bis heute nicht einig, ob die Djedefre-Pyramide fertiggestellt und anschließend bis zum heutigen Zustand wieder zerstört wurde oder ob nie eine Fertigstellung erfolgte. Als Tatsache gilt gesichert, dass Priester des Djedefre-Kults bis in die 6. Dynastie nachgewiesen wurden.

Die Djedefre-Pyramide ist als einzige der großen Pyramiden der 4. Dy­nastie fast vollständig von Steinräubern demontiert worden, während die meisten anderen Bauwerke dieser Epoche immerhin einen ausnehmend gut erhaltenen Kernbereich besitzen. Die Ägyptologen nehmen an, dass der Steinraub vermutlich bereits in der Ramessidenzeit begann. Der Höhepunkt der Zerstörung soll aber in römischer Zeit gelegen und sich durch das Mittelalter hinweg bis ins 19. Jahrhundert fortgesetzt haben. Flinders Petrie berichtete, dass selbst in den 1880er Jahren immer noch Steinmaterial in der Größenordnung von etwa 300 Kamelladungen pro Tag abtransportiert worden sein soll, was ja nicht gerade wenig ist. Nicht nur das Kernmauerwerk, sondern auch fast der gesamte Unterbau der Pyramide wurden auf diese Weise zerstört. Begünstigt wurde dies zum einen durch die abgeschiedene Lage des Bauwerks und zum anderen dadurch, dass die Pyramide möglicherweise eine große Menge des wertvollen Assuan-Rosengranits enthielt.
Die Pyramide war über einem kleinen Hügel errichtet worden, der etwa 44 % des Gesamtvolumens der Pyramide ausfüllte und so beim Bau zu einer deutlichen Arbeits- und Materialersparnis führte. Ganz ähnlich ist man wohl bei der Chephren-Pyramide in Gizeh vorgegangen, bei der die unteren Lagen ebenfalls eindeutig aus dem vorhandenen Fels des Gizeh-Plateaus bestehen. Erst etwa ab der dritten Lage kommen hier Einzelblöcke zum Einsatz. Bei der Chephren-Pyramide weiß man bisher noch nicht, ob man praktischerweise vielleicht ebenfalls einen bereits vorhandenen Hügel integrierte und diesen durch Umbauen zu einer Pyramide umfunktionierte. Auch der in der Nähe des Sphinx stehende Rest der Chentkaues-Pyramide scheint in ähnlicher Art umgebaut worden zu sein: Man nahm einen passenden Gesteinshügel und arbeitete Stufen in den Fels, auf welche die (heute fehlenden) Verkleidungssteine aufliegen konnten. Passagen und „Grabräume“ wurden direkt in den gewachsenen Felsen getrieben. Warum eine komplette Pyramide bauen, wenn man einen vorhandenen Berg dazu verwenden kann?
Fertiggestellt könnte die Djedefre-„Pyramide“ etwa der Größe der Mykerinos-Pyramide in Gizeh entsprochen haben – wenn sie denn je eine Pyramide war.
Da man keine Kalksandstein-Verkleidungsblöcke fand, gehen die Ägyptologen heute davon aus, dass der Pyramidenbau möglicherweise nicht über die rund fünfzehn unteren Lagen aus Assuan-Granit hinaus gekommen ist. Wobei möglicherweise ein ähnlicher Bauplan zugrunde lag wie bei der Chephren- und Mykerinos-Pyramide, dass der untere Bereich mit Rosengranit und der darüber liegende mit normalem Sandstein verkleidet werden sollte.

Der Zentrale Schacht, der die Kammern enthalten haben soll, misst 23 × 10 m und liegt nicht etwa zentral, sondern auf der Nordseite des Bauwerks. Er ist über eine abwärts führende, relativ steile Rampe von rund 49 Metern Länge zu erreichen. Und wie alles in diesem Bauwerk ist auch er nur unzureichend bearbeitet worden. Hat man den beschwerlichen Abstieg in den Schacht endlich geschafft, steht man in einer Art Innenhof mit einem unebenen Boden, der mehr oder weniger mit Geröll bedeckt ist. Einige nur flache und teilweise mit groben Felsbruchstücken verfüllte Schächte befinden sich ebenfalls hier, alles nur recht grob ausgeführt. Ob einer dieser noch verfüllten Schächte zu irgendeiner „Grabkammer“ führt, ist derzeit noch ungewiss.
 Ringsum erstrecken sich die Wände rund 21 Meter hoch, und man fragt sich unwillkürlich, wie die Baumeister es fertiggebracht haben sollen, dieses riesige Loch zu überdachen oder zu überbauen.
Im Umfeld der „Pyramide“ haben Ägyptologen Mauern und Gebäude durch etwa meterhohe Mäuerchen rekonstruiert, welche die Grundmauern darstellen sollen. Ob es damals wirklich so aussah oder ob es Ägyptologen-Fantasie ist, weiß jedoch niemand so genau.
Im Osten der Pyramide befindet sich weiterhin eine Grube im Felsuntergrund, die an die Bootsgruben etwa bei der Cheopspyramide erinnert. Auch sie ist nur grob behauen. In ihr wurden keinerlei Bootsreste gefunden, sondern vielmehr Statuenfragmente aus rotem Quarzit, die von mindestens 21 unterschiedlichen Statuen stammen sollen, darunter auch einige Bruchstücke von Djedefre-Statuen.
Ebenfalls im Osten der Pyramide sind Reste des Totentempels zu finden, die kürzlich mehr oder weniger schlecht restauriert wurden. Beide Objekte wurden bereits 1901 von Emile Chassinat ausgegraben.

Wenn es denn so stimmt, dass hier in großem Stil über Jahrhunderte hinweg Steinraub betrieben wurde, lässt sich heute kaum noch rekonstruieren, wie das Bauwerk ehemals aussah, sofern es überhaupt fertiggestellt wurde. Allerdings sah ich dort keinen einzigen (Granit-) Steinblock, den man vergeblich versucht hat, in kleinere Stücke zu zerlegen, wie sie etwa rings um die Chephren- und Mykerinos-Pyramide in Gizeh massenweise herum liegen. Wenn also die ominösen Steinräuber bevorzugt die Granit-Steinblöcke weggeschafft haben, müssen sie im Zerkleinern der Blöcke erfolgreicher als in Gizeh gewesen sein, oder sie müssten die Blöcke am Stück weggeschafft haben, denn in Pyramiden verbaute Granitblöcke waren immer relativ groß und entsprechend schwer. Weiterhin müsste untersucht werden, wohin man diese Steine geschafft hat, denn Steinräuber stehlen ja nicht, nur um die Steine zu besitzen. Sie wollen damit ihre eigenen Häuser erbauen (oder die Blöcke zu einem guten Preis weiter verkaufen). Demnach müssten zumindest noch Reste der Granitblöcke in den einzelnen Ortschaften etwa in Hauswänden vorhanden und zu finden sein.


© 2010 Gernot L. Geise, veröffentlicht im SYNESIS-Magazin Nr. 2/2010